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Der Focusing-Blog

Lass' deinen Körper Freiraum schaffen

Lass' deinen Körper Freiraum schaffen

Von Beate Ringwelski

 

Aufgeregt

Kürzlich erhielt ich eine E-Mail von einer Freundin. Sie warf mir vor, ich hätte sie belogen und hintergangen. Dabei handelte es sich um ein Missverständnis mit fatalen Schlussfolgerungen durch sie. Im Moment war ich wütend und auch enttäuscht, dass sie mir so etwas überhaupt zutraut. Ich weiß allerdings, wie schnell ihr Vertrauen erschüttert werden kann. Mir lag sehr daran, unser gutes Verhältnis wiederherzustellen, und zwar so schnell wie möglich. Mir war klar, dass ich jetzt unbedingt die richtigen Worte finden musste, um sie nicht noch weiter zu verletzen. Also nahm ich mir vor, erst einmal einen Focusingprozess über unsere Beziehung zu machen in der Hoffnung, ihr dann eine passende Antwort geben zu können.

Ich suchte mir also einen ruhigen Platz zum Fokussieren mit mir selbst, was mir gewöhnlich gut gelingt. Aber an diesem Tag konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich war zu erregt, war verärgert, fast in Panik. Ich wusste selbst nicht, was mich an der Sache so aufregte. Mich auf meinen Körper zu konzentrieren und in gewohnter Weise „Freiraum zu schaffen“ erwies sich als unmöglich. Mein Herz klopfte, mir war heiß. Ich versuchte, mein Herz zu fragen, wie es denn klopft. Aber auch das funktionierte nicht. Ich fand keinen Abstand zum Geschehen, kam nicht zur Ruhe, war nur verletzt und wütend.

 

Wholebody

Aber die Zeit drängte. Wahrscheinlich würde sich meine Freundin weiter in ihr Misstrauen hineinsteigern, und dann würde es immer schwieriger werden, unsere Beziehung zu reparieren. Da fiel mir ein, dass ich es vielleicht meinem Körper überlassen könnte, mir den nötigen Freiraum zu verschaffen. Ich hatte schon einige Erfahrung im „Wholebody Focusing“. Dabei lässt man den Körper sich bewegen, wie er im Moment gerade will. Was würde mein Körper tun, wenn ich ihn einfach machen ließe in dieser Situation, wo ich ganz überwältigt war von meinen Emotionen, Ängsten und Wünschen?

 

Haltung finden

Ich stand also auf und überließ es meinem Körper, eine Haltung zu suchen, die meine momentane Stimmung ausdrückte. Schon diese Absicht machte mich ein kleines bisschen ruhiger. Mein Geist ging in eine zwanglose Beobachterposition. Ich nahm meine Bewegungen wahr, ohne sie zu bewerten. Ein bisschen Neugier kam auf, wie mein Körper wohl meine seelische Verfassung ausdrücken würde. Ich probierte ohne nachzudenken, bis sich meine Ausgangsposition stimmig anfühlte.

Ich stand nun aufrecht da, etwas nach hinten geneigt. Der Kopf befand sich in Verlängerung der Wirbelsäule, so dass mein Gesicht nach schräg oben zeigte. Die Augen hatte ich geschlossen, um mich besser spüren zu können. Die linke Hand schwebte über meinem Kopf links vorn, die Finger berührten leicht mein Haar oberhalb der Schläfe. Die Finger waren gekrümmt, so als wollte ich mich gerade nachdenklich am Kopf kratzen. Der gebeugte linke Ellenbogen befand sich etwa in Kinnhöhe.

Der rechte Arm zeigte nach vorn, im Ellenbogen etwas abgewinkelt. Das rechte Handgelenk war so abgeknickt, dass die rechte Handinnenfläche nach vorn schaute. Die Finger zeigten nach oben, waren gekrümmt und starr, wie eine Kralle. Diese Hand tat weh.

 

Inner directed movement

Dies war also die Ausgangssituation. Und nun wartete ich ab, was als nächstes passieren würde. Erst einmal geschah gar nichts. Ich stand wie gefroren. Plötzlich fiel mein linker Arm herunter. Er hing jetzt locker an meiner linken Seite. Ich blieb weiter geduldig in dieser neuen Position. Dann kam der Impuls, mich etwas mehr aufzurichten. Ich stand aber immer noch leicht nach hinten geneigt. Die Blickrichtung hatte sich dadurch so verändert, dass sie nun  nach vorn gewandt war. Nach ein paar Sekunden setzte sich mein rechter Arm in Bewegung. Langsam glitt er Stückchen für Stückchen zur rechten Seite. Die verkrampfte Krallenhand lockerte sich etwas. Die Vorderseite meines Körpers war jetzt frei, nicht mehr verdeckt durch meine Arme. Ich wartete auf weitere Impulse. Es tat sich aber vorläufig nichts mehr.

 

Gut vorbereitet für Focusing

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich jetzt genug Freiraum hätte, um mich auf einen Focusingprozess einzulassen. Ich setzte mich wieder hin und entspannte mich. Tatsächlich gelang es mir jetzt, meinen Innenraum wahrzunehmen und dann auf die Beziehung zu meiner Freundin zu fokussieren. Ich ging dabei in den Schritten vor, wie wir es bei Gendlin gelernt haben, und erreichte am Ende die Klarheit, die ich brauchte, um meiner Freundin eine ehrliche und passende Antwort zu geben. Sie hat sie akzeptiert. Die Vorwürfe waren aus dem Weg geräumt.

 Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich schon länger ein passendes Beispiel gesucht hatte, um diese Form des „Freiraumschaffens“ in einem Artikel zu beschreiben. Aber es passiert mir glücklicherweise nicht mehr oft, dass ich derartig in Rage bin, wie es an diesem Tag tatsächlich der Fall war. Während des Prozesses habe ich auch gar nicht an den Artikel gedacht. Hinterher fiel mir allerdings ein, dass diese Geschichte ganz passend wäre, um dem interessierten Leser diese körperbezogene Technik des Freiraumschaffens darzustellen. Deshalb habe ich mich nach dem Focusing gleich hingesetzt und mir die wichtigsten Phasen meiner Körperhaltung notiert.

 

Der Körper bewegt sich von allein

Sicherlich ist es immer hilfreich, bei sich selbst in Beobachterposition zu gehen. Damit erzeugt man normalerweise bereits genügend Abstand zum Geschehen. Aber das gelang mir in meiner Situation nur rudimentär, gerade genug, um mich hinterher noch an meine Bewegungen zu erinnern. Ansonsten war es geradezu typisch, dass ich mich nicht „in Ruhe“ selbst beobachten konnte, weil diese Ruhe eben fehlte.

Die Haltungen und Bewegungen werden durch den Beobachter, also durch mich oder auch jemand anderen, nicht interpretiert. Wenn ich meine Beschreibung jetzt lese, fallen mir (und wahrscheinlich auch Ihnen) durchaus Erklärungen ein, was diese oder jene Stellung des Körpers oder der Hände ausdrücken könnten. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, alles Störende oder Blockierende durch spontane Bewegungen soweit zu verändern, dass genügend Freiraum entsteht, um einen Focusingprozess zu einem bestimmten Thema überhaupt durchführen zu können. Der Körper ist da einfach schlauer und schneller als mein Geist. Kein Gedanke und kein Affekt bremst ihn, den Weg zu finden, der ihm gut tut und weiterbringt.

Ich möchte mich hier nicht in Theorien ergehen, um das Wichtige an dieser Vorgehensweise nicht zu zerreden. Das Wichtige ist, den Körper einfach machen zu lassen. Ich gebe zu, dass auch das nicht immer so einfach ist. Leute mit Erfahrung im Ausdruckstanz oder Improvisationstheater haben es da sicher leichter als Schreibtischmenschen. Aber auch das kann man lernen und üben.

 

Referenz an Kevin McEvenue

Mein Lehrer war der Begründer des „Wholebody Focusing“, der Kanadier Kevin McEvenue. Ich lernte ihn 2001 bei einem Workshop in Den Haag kennen. In seinen Skript von damals lese ich: „Eine spontane, von innen heraus geleitete Bewegung („inner directed movement“) geschieht, wenn man nach innen hört mit einer offenen Einstellung und dem Raum gibt, was körperlich bereits gefühlt wird. Wenn das geschehen ist, entstehen Bewegungen ganz von allein.“ (Übersetzung durch mich) Ich habe mit „inner directed movements“ viel experimentiert, auch mit Klienten. Die oben geschilderte Anwendung zum Freiraum schaffen habe ich selbst daraus entwickelt.

 

Die Schritte

Zusammenfassend möchte ich die Schritte nacheinander aufführen, wie so ein Prozess ablaufen kann:

-        Zuerst suche ich mir einen Platz im Raum, an dem ich mich frei bewegen kann.

-        Ich registriere, was ich im Moment in meinem Körper besonders spüre. 

-        Dann versuche ich, meinen ganzen Körper in eine Position zu bringen, die ausdrückt, wie ich mich gerade fühle. Das bezieht sich sowohl auf die Haltung (stehend, sitzend oder liegend) als auch auf Arme, Beine und Kopf.

-        In dieser Position bleibe ich und warte… und warte

-        bis ich einen Bewegungsimpuls verspüre. Diese Bewegung führe ich aus. Oft ist sie klein, trotzdem verändert sie die gesamte Situation. Es ist jedenfalls eine spontane und nicht bewusst herbeigeführte Bewegung. 

-        In dieser neuen Position verharre ich solange, bis sich wieder irgendwo ein Bewegungsimpuls bemerkbar macht, den ich dann ausführe.

-        So setzt sich der Prozess fort im Wechsel von Abwarten und spontanem Bewegen.

-        Irgendwann kommt der Prozess zum Stehen. Ich habe das Gefühl von „es reicht“. Ich analysiere das Geschehene und neu Entstandene nicht, sondern

-        setze mich hin und beginne sofort einen Focusingprozess in gewohnter Weise.

 

Habe ich bei Ihnen Neugier geweckt, es selbst einmal zu versuchen? Sie brauchen nicht auf den großen Krach zu warten, wo dieses Vorgehen wirklich hilfreich wäre, dann aber auf Anhieb vielleicht nicht gelingt. Zum Üben probieren Sie doch mal folgendes: Versuchen Sie, Ihren Körper ausdrücken zu lassen, wie es Ihnen gerade jetzt, in diesem Moment geht. Und dann warten Sie, ob Bewegungsimpulse auftauchen. Viel Vergnügen!

 

Literatur:

-        van der Kooy, Addie; McEvenue, Kevin: Focusing with Your Whole Body. Marlborough, Toronto 2006 (zu beziehen über den bookstore des Focusinginstitutes New York)

-        McEvenue, Kevin: Wholebody-Focusing – Arbeiten mit dem ganzen Körper. In: Feuerstein, Müller, Cornell: Focusing im Prozess. Köln, GwG-Verlag 2000.

-        McEvenue, Kevin; Fleisch, Glenn: The Whole Body Focusing Story. In: The Focusing Folio 2008. www.focusing.org

-        E.T. Gendlin: Movement therapy, objectification, and focusing. Focusing Folio,1 (2), 35-37. 1981.

-        Ringwelski, Beate: Focusing – ein integrativer Weg der Psychosomatik. Stuttgart 2003.

 

Dr. Beate Ringwelski war Fachärztin für Psychiatrie und Psychosomatik. Sie hat mehrere Artikel im Focusing Journal sowie auch das Buch Focusing - Ein integrativer Weg der Psychosomatik (erschienen bei Klett-Cotta) veröffentlicht. Sie ist 2020 verstorben. 

 

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