Ein Beitrag von Kristina Marek.
Vielleicht kennst du das auch? Du kommst aus dem Urlaub, von einem bereichernden Seminar oder aus einem schönen Wochenende in deinen Alltag und bist dir sicher, dass du diesmal dieses wohlige Gefühl der Entspannung, Kreativität und Verbundenheit mit in deine Begegnungen und deine Aufgaben nehmen wirst. Diesmal wird dir dieses Lebensgefühl nicht verloren gehen, es wird dich auch im Alltag tragen! Es geschieht jedoch das, was du kennst: du gerätst in alte Muster und fühlst dich bald gestresst, überfordert oder gelangweilt. Und du fragst dich: „Wie kann ich auch im Alltag mehr Energie, Selbstfürsorge und Verbundenheit haben?“
Die Fragen, denen wir uns nähern sind: Wie kann es im Alltag gelingen, dass aus meiner Motivation, meinem „Brennen“, kein „Ausbrennen“ wird? Wie kann ich mit Focusing spüren, wann ich eine Pause brauche, was mir guttut und wie ich kann ich lernen, mich in Überforderungssituationen besser abzugrenzen? Wie kann ich einen guten Familien- und Arbeitsalltag gestalten, in dem sowohl die Pflicht als auch die Kür ihren Platz findet und nicht nur der Gedanke ans Wochenende, ans nächste Focusing Seminar oder an den baldigen Urlaub hilft, alles auszuhalten oder durchzuziehen?
Stresserleben und die Regulation von Stress
Aus der Stressforschung wissen wir, dass unser Körper gelernt hat, unter Belastung auf Altbewährtes zurückzugreifen, um Energie zu sparen und gefährlich Neues zu vermeiden. In Stresssituationen geraten wir daher häufig in alte Muster, wie z.B. in einen inneren Kampfmodus („ich muss mich noch mehr anstrengen, dann schaff ich das schon“). Wir (über)funktionieren, beißen uns durch oder wir flüchten (z.B. in Medienkonsum). Wir neigen dazu Aufgaben aufzuschieben und erleben uns dabei müde und hilflos oder wir versuchen passiv auszuhalten. In allen diesen Momenten erleben wir inneren (und äußeren) Druck, fühlen uns wenig lebendig und sind nicht gut verbunden mit uns selbst und andern. Und oft hält dieser Zustand länger an, als uns lieb ist, da unser Nervensystem irgendwie „hängen geblieben ist“.
Um dies zu verstehen, ist es hilfreich die Stressverarbeitung unseres Körpers als evolutionär gewachsene neuronale Muster zu kennen. Unser Körper hat gut gelernt mit starker Bedrohung umzugehen. In unserer Grundausstattung des autonomen Nervensystems finden sich drei verschiedene Überlebensmodi. Um dies zu veranschaulichen, schauen wir uns das „Fenster der Stresstoleranz“ an.
Das Modell des „Fensters der Stresstoleranz“ stammt aus der Traumaforschung und hilft uns zu verstehen, wie Menschen auf Stress reagieren und wie sie lernen können, besser damit umzugehen. Das Schaubild beschreibt den Bereich von emotionaler und physiologischer Aktivität, in dem eine Person optimal funktionieren kann, ohne sich überwältigt zu fühlen.
Es gibt individuelle Unterschiede. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Fenster der Stresstoleranz, das von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, wie z. B. persönlichen Erfahrungen, genetischen Veranlagungen, sozialer Unterstützung und Bewältigungsmechanismen, und kann bei einer Person auch situations- oder tagesformbedingt variieren.
Im mittleren, optimalen Funktionsbereich sind Menschen in der Lage, angemessen auf Stressoren zu reagieren, ihre Emotionen zu regulieren, sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen und klare Entscheidungen zu treffen. In diesem Bereich fühlen wir uns entspannt und wohl.
Im Hyperarousal, d.h. wenn eine Person über das Fenster hinaus belastet wird, kann sie einen Zustand der Übererregung erreichen. Hierbei fühlt sie sich ängstlich, gereizt oder überaktiv und erlebt Angst, die sich bis zu einer Panikattacke steigern kann. Die Reaktionsmechanismen des Körpers sind dann „Kampf oder Flucht“, was zu impulsiven Reaktionen, Ärger, Gereiztheit oder Unruhe führen kann. Im autonomen Teil unseres Nervensystems wird in diesem Stressmodus der Sympatikus unseres vegetativen Nervensystems aktiviert und es werden Stresshormone freigesetzt, die eine schnelle Reaktion auf Bedrohungen ermöglichen: der Herzschlag wird schneller, die Muskeln besser durchblutet und die Verdauung runtergefahren, die Atmung wird flacher und die Wahrnehmung geschärft. Wenn wir dauerhaft in einer Übererregung sind, kann dies zu psychosomatischen Reaktionen führen und stressbedingte Krankheiten begünstigen.
In extremen oder langandauernden Stresssituationen oder wenn Flucht oder Kampf keine Optionen sind, wechselt der Körper in den Schutzmechanismus der Immobilität oder „Erstarrung“ („Freeze“). In diesem Zustand des Hypoarousals können Emotionen und das Bewusstsein eingeschränkt sein, was häufig in Gefühlen von Taubheit, Rückzug oder Antriebslosigkeit mündet. Wir fühlen uns erschöpft, hilflos und ausgeliefert und gleichzeitig sehr unter Druck, einsam und entfremdet. Körperlich erleben wir uns starr und alles fühlt sich anstrengend an. Dauert dieser Zustand länger an, kann daraus eine Depression entstehen.
Die Entscheidung, in welchen inneren Modus wir wechseln, wird nicht in unserem Bewusstsein (Neokortex) verhandelt, sondern autonom, in evolutionär älteren Gehirnregionen. Deshalb haben wir über unsere Gedanken und unseren Willen keinen direkten Zugriff darauf. Es braucht andere Mechanismen, um eine Regulation zu finden. Die Polyvagal Theorie, von dem Neurologen Stephen Porges in den 1990er Jahren entwickelt, beschäftigt sich mit der Rolle des Vagusnervs im Zusammenhang mit der Regulierung von Emotionen, sozialen Interaktionen und der Reaktion auf Stress und Trauma. Der Vagusnerv ist der längste Nerv des autonomen Nervensystems und beeinflusst verschiedene Körperfunktionen, einschließlich Herzschlag, Atmung und Verdauung. In der Polyvagalen Leiter wird genau beschrieben und erklärt, wie die einzelnen Modi miteinander zusammenhängen und welche Übungen und Praktiken helfen können aus der Übererregung oder der Erstarrung herauszufinden. In dem Buch „Heilen mit der Polyvagal Theorie“ von Stephen Porges finden sich Hintergründe zu seiner Theorie und auch praktische Übungen. Wer sich mit Focusing und der Polyvagaltheorie weiter beschäftigen möchte, dem empfehle ich auch den Podcast von Tony Hofmann („wage wilde wege“, Folgen 211-220).
Folgendes lässt sich zusammenfassen: Zur Regulation von Über- oder Untererregung, also von starkem oder dauerhaftem Stress, sind gute äußere Bedingungen wie Sicherheit, Ruhe und Zugehörigkeit wichtig, genauso wie nährende Kontakte und eine gute Selbstfürsorge. In der Selbstregulation finden bestimmte körperliche Übungen wie sich Schütteln, Selbstmassage, Klopftechniken und Atemanleitungen ihre Anwendung. Diese werden häufig als Tools bezeichnet und finden sich unter den Begriffen Somatic Exercises oder Achtsamkeitsskills wieder. In der Therapie werden Menschen angeleitet, sich über Düfte oder starke sensorische Reize aus einer Dissoziation oder dem Freeze Modus zu befreien. Regelmäßige Bewegung und vor allem Momente in der Natur können einen entscheidenden Unterschied in der Stressregulation machen. Wichtig ist es auch einen inneren und äußeren Raum für die Gefühle zu haben, die entstehen können: Angst und Panik, aber auch Trauer, Resignation und Wut. Für die Regulation dieser innerlich ablaufenden Stressreaktionen ist es sehr hilfreich, mit anderen darüber zu sprechen und Verständnis und Raum für das Erlebte zu erfahren. Dies findet in der Psychotherapie statt, kann aber auch mit vertrauten Menschen praktiziert werden. Entscheiden ist hierbei eine Haltung des Annehmens und der Absichtslosigkeit.
Focusing kann hier auf mehreren Ebenen hilfreich sein. Im Rahmen von Mini-Selbstfocusing können wir spüren, was in uns vorgeht und was wir in stressigen Situationen brauchen oder erleben. Wir können spüren, wann uns etwas zu viel wird, und wir können lernen uns abzugrenzen und spüren, was uns guttut, um uns regulieren zu können. Im Partnerschaftlichen Focusing können wir Resonanz und Unterstützung erleben. Wir können uns selbst besser kennenlernen, Erlebtes verarbeiten und andere Wege des Umgangs mit Stress entwickeln. Focusing in der Beratung und Therapie gibt einen sicheren und haltgebenden Raum, in dem Verbundenheit und Lebendigkeit gefunden und erlebt werden kann.
Belastungsfaktoren und gefährliche Muster
Bisher ist deutlich geworden, dass Stress per se nicht unbedingt schädlich ist. Positiver Stress kann uns aktivieren und motivieren, wenn wir eine Aufgabe als Herausforderung ansehen, uns den Anforderungen gewachsen fühlen und uns nach der Anspannung erholen. Aber: Ein Zuviel an Stress sowie chronischer Stress machen krank. Die WHO betrachtet Stress als die größte Gefahr unserer Zeit und die Zahl der Menschen, die aufgrund von Druck und Überlastung Symptome entwickeln oder sogar in einen handfesten Burnout geraten, wächst immer weiter. Wir haben im vorigen Abschnitt den Zusammenhang kennengelernt, warum dauernde Anspannung zum Ausbrennen führen kann. Fehlende Erholungszeiten machen Stress zum Problem und Arbeiten unter »Dauerstrom« raubt viel Kraft und schadet der Gesundheit. Mögliche Folgen können sein: Unkonzentriertheit, Fehler, zunehmender Leistungsabfall und »unsoziales Verhalten«; die Hilfsbereitschaft sinkt und die Gereiztheit steigt. Ungehalten sein und nicht gut zuhören führen zu Missverständnissen, sinkender Teamfähigkeit und Unzufriedenheit mit sich selbst.
Zu bedenken ist, dass nicht das Ausmaß der Belastungen allein entscheidet, ob die Arbeit krank macht, sondern ob die Waage zwischen beruflicher und privater Gesamtbelastung und den eigenen Bewältigungskompetenzen in Balance ist und wie wir selbst unsere Belastungen erleben. Interessant ist also, dass nicht die Fülle der Belastungen allein ausschlaggebend ist, ob jemand ausbrennt. Erst wenn die Kompetenzen nicht mehr ausreichen, um die anstehenden Beanspruchungen zu bewältigen, wird es kritisch.
Zurück zu unserer Frage, wie wir unser lebendiges Erleben im Alltag erhalten und wiederfinden können. Wir stellen uns mal vor: Wir sind ganz gut im Einklang mit uns selbst und halten durch ein erfüllendes Privatleben auch ziemlich viel aus. Wir leben jedoch vielleicht schon seit vielen Jahren in einer leichten Überlastung oder Überforderung, ohne es so richtig zu bemerken, da wir es ja meistens ganz gut hinbekommen. Häufig halten Menschen ein hohes Level an Stress über viele Jahre aus, wenn es einen guten Ausgleich gibt, die Arbeit sich sinnvoll anfühlt, ein guter Kontakt mit Kolleg*innen besteht oder Wertschätzung erlebt wird. Solange alles in Balance ist, müssen wir nicht besonders auf eigene Grenzen achten und haben dies vielleicht auch nicht gut gelernt. Wir haben uns trainiert eher auf äußere Erwartungen als auf eigene Bedürfnisse einzugehen und sind es gewohnt, uns selbst zu überfordern und über die eigenen Kräfte hinaus zu gehen. Wir haben schließlich von klein auf gelernt, dass es wichtig ist Dinge fertig zu machen und „Leistung abzuliefern“. Und wir sind es gewohnt in einem „Non-stopp-Tun“ zu sein. Hier ist die Gefahr groß, dass Signale des Körpers überhört werden und zu wenig auf eigene Bedürfnisse geachtet wird und wir vielleicht weiterarbeiten, obwohl die Füße kalt sind, die Blase drückt oder wir eigentlich schon ziemlich erschöpft sind. Belohnt wird dieses Verhalten durch eine hohe Dopamin Ausschüttung im Gehirn. Wenn wir was leisten, herstellen, fertig machen, dann fühlen wir uns produktiv, lebendig, selbstwirksam und wertvoll.
Ich bin in diesem Zusammenhang auf den Begriff des Burn-On gestoßen. Dies ist ein Zustand von hoher Energie, Engagement und Begeisterung – oft bei der Arbeit oder in einem bestimmten Projekt. Menschen in einem Burn-On-Zustand sind motiviert, kreativ und bereit, zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen. Sie erleben oft ein Gefühl der Erfüllung und Zufriedenheit durch das, was sie tun. Diese Menschen sind jedoch, wenn noch bestimmte andere Faktoren dazu kommen, besonders gefährdet für Burnout. Die Gefahr einer Überlastungsreaktion ist für engagierte Menschen, die hohe Ideale haben und sich für eine Aufgabe begeistern, besonders hoch. Es ist wichtig zu wissen, dass Burnout eine prozesshafte Erkrankung ist, die sich meist über einen langen Zeitraum entwickelt mit Symptomen auf verschiedenen Ebenen. Die Betroffenen arbeiten mit hohem Engagement über einen längeren Zeitraum über die eigenen Grenzen hinweg und wenn die eigene Arbeits- und Leistungsfähigkeit nachlässt, was als eines der ersten Symptome von Burnout häufig geschieht, wird dies mit einem noch höheren Engagement beantwortet, bis die Erschöpfung und andere Symptome so stark werden, dass nichts mehr geht. Es wird dann besonders kritisch, wenn eine innere Distanzierung zur eigenen Arbeit und zu den Menschen dort entsteht, häufig gepaart mit Zynismus und Sinnverlust. Wenn es letztendlich zu einem Zusammenbruch kommt, können die Erschöpfungssymptome auch eine Chance sein, um überhaupt aus diesem Kreislauf aussteigen zu können und sich einzugestehen, dass etwas aus dem Ruder läuft. Dies ist häufig der Anlass, sich Hilfe zu suchen. Eine Krise kann, wenn sie ernst genommen wird, zu großen Veränderungen führen oder einen sanften Kurswechsel in eine positive Richtung einleiten.
An dieser Stelle möchte ich Dich gerne einladen, Dir einen Moment Zeit zu gönnen, bevor Du ins nächste Tun gehst. Wenn Du magst, dann stell dir einen Timer auf 3-5 Minuten. Und dann möchte ich Dich einladen, Deine Aufmerksamkeit zu Dir zu nehmen und alles andere jetzt gerade getrost zu ignorieren. Vielleicht magst Du mal in Deinen Körper spüren und auch deinen Atem bewusst wahrnehmen? * Wie spürst du Deine Füße? Berühren sie den Boden? Wie genau erlebst du das? * Welche anderen Kontaktstellen Deines Körpers mit der Umgebung gibt es sonst noch? Wie fühlt sich das an? * Gibt es etwas, das du an deiner Haltung verändern magst? Probiere mal aus, wie sich kleine Veränderungen deiner Sitzhaltung anfühlen? * Vielleicht magst du ausprobieren, wie es ist, wenn du deine Hüfte etwas bewegst. Wie spürst du deine Sitzhöcker auf deiner Sitzunterlage? Wie spürst du deine Wirbelsäule, wenn du kleine Bewegungen machst? * Und wie fühlen sich deine Schultern an, wenn du sie ganz sanft bewegst? * Vielleicht magst Du mit Deiner Haltung des Kopfes spielen und dabei erleben, was im Nacken geschieht? * Nimm dir ruhig noch etwas Zeit, um mal verschiedene kleine Bewegungen auszuprobieren und zu bemerken, was sich gut anfühlt. Strecken, räkeln, gähnen, aufstehen, Beine ausschütteln, hüpfen…
Ressourcen und Fähigkeiten im Umgang mit Druck, Stress und Reizüberflutung
Wir haben bisher gelernt, dass es wichtig ist, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Tun und Nichtstun, zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Kontakt mit anderen und Zeit allein. Eine übermäßige Fokussierung auf etwas, auch im Sinne von Burn-On, kann langfristig kippen, wenn Achtsamkeit und Selbstfürsorge vernachlässigt werden. Manchmal kann dann eine unvorhergesehene, zusätzlich belastende Kleinigkeit oder Veränderung die Balance zwischen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten zum Kippen bringen. Vielleicht bekommen wir einen neuen Chef, der uns mehr in Frage stellt und weniger lobt oder eine Stelle wird nicht nachbesetzt und wir müssen zusätzliche Aufgaben übernehmen oder im Privaten gibt es Veränderungen: wir haben Beziehungsprobleme, ziehen um oder erleben eine Trennung oder Verlust. Oder ganz schlicht: wir werden älter und die eigene Belastbarkeit wird nach und nach etwas weniger und wir brauchen länger, um uns zu regenerieren. Ich bin auf die interessante These gestoßen, dass zur Arbeitszeit mehr hinzugezählt wird als die Zeit mit und bei der Arbeit. Vielmehr gehört die Zeit für den Arbeitsweg dazu und auch die Zeit, die wir brauchen, um uns von der Arbeit zu erholen. Das, was dann noch übrigbleibt, ist unsere wirkliche freie Zeit für Muse und Kreativität. Und diese Rechnung kann sich im Lauf des Lebens und in verschiedenen Lebensphasen verändern.
Fest steht, wir brauchen jeden Tag, jede Woche und im Jahresverlauf Zeiten, um uns zu regenerieren: also tägliche Pausenzeiten, freie Tage in der Woche und im Jahr. Eine Pause, in der wir aus dem aktuellen Tun aussteigen, ist wichtig, um zu bemerken, wie das eigene Befinden ist und ob es Bedürfnisse gibt, die gestillt werden wollen. Verlangsamen, Innehalten und in eine innere Achtsamkeit finden, nachspüren.
Ulrike Pilz-Kusch schreibt in ihrem Buch „Burnout- Frühsignale erkennen – Kraft gewinnen“ die Empfehlung, dann aufzuhören, wenn man weiß, wie es weiter geht und wenn die Energie fließt. Sie schreibt: „Unser Organismus benötigt nach jeder Stresssituation, in der er auf Hochtouren läuft, eine Pause, in der er sich von den stressbedingen Alarmreaktionen unseres Körpers, Geistes und Gefühlslebens erholen kann. Und zwar täglich. Ansonsten nehmen wir nachhaltigen Schaden. … Im Nonstop-Tun unter Anspannung spüren wir unsere Müdigkeit und die Grenzen der eigenen Belastbarkeit meist nicht.“ (S. 66)
Wenn Du weißt, dass Du dazu neigst, dich zu überfordern, dann kannst Du mal auszuprobieren früher Pause zu machen, als Du es sonst immer tust. Dann, wenn Du noch frisch bist. Du kannst bemerken, dass hierüber ein anderes Arbeiten möglich wird, in dem die Energie konstant bleiben kann und keine Phasen von Erschöpfung oder Überforderung geschehen, die dann wieder ausgleichen werden müssen. Oder vielleicht gehörst Du auch zu den Menschen, die ganz in einer Tätigkeit aufgehen können (siehe Burn-On)? Dann kann es, um Veränderung zu ermöglich, auch hilfreich sein, erst mal nach einem vorher erprobten System Pausen zu machen, z.B. mit der Pomodoro Technik. Diese wurde in den1980er Jahren von Francesco Cirillo entwickelt und schlägt vor 25 Minuten konzentriert an einer Aufgabe arbeiten und dann 5 Minuten Pause machen. Dieser Zyklus ist ein Pomodoro und wird insgesamt viermal durchgeführt, dauert also zwei Stunden und dann wird eine längere Pause eingelegt. Geplante, vorher festgelegte Pausenzeiten sind dann hilfreich, wenn die eigene Erwartung mehr auf Durchhalten getrimmt ist und wenn dadurch die Signale des Körpers regelmäßig übergangen werden. Im Focusing üben wir, im Kontakt mit uns selbst zu bleiben, dass Körpersignale wahrgenommen werden können, um dann Pausen nach der eigenen Intuition zu machen.
„Der Kopf will immer alles haben, aber der Körper weiß, wann er genug hat.“ Gendlin, bei Pilz-Kusch S. 88
Innerer Kritiker vs. Innerer Gönner
Wir leben in einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft und wir haben gelernt das zu akzeptieren und uns damit zu arrangieren. Schon ein kleines Kind, spätestens das Schulkind, lernt sich anzupassen, einzufügen und abzuliefern. Von klein auf sind wir umgeben von Erwartungen an uns. Unsere Eltern oder andere Erwachsene haben wir häufig gestresst, überfordert und trotzdem funktionierend erlebt. Vielleicht sind wir auch in einer Umgebung aufgewachsen, in der es schick war, über eigene Grenzen zu gehen, in der es besonderes Lob für Leistung gab oder in der müde oder krank sein als Schwäche galt. Die Werte und Normen, die uns hierüber vermittelt werden, haben wir internalisiert, d.h. wir haben sie in uns, ob wir das wollen oder nicht und oft sind diese inneren Glaubenssätze auch unbewusst wirksam. Wenn ich mich nur über meinem Kopf reguliere, dann bleibe ich häufig in dieser internalisierten Struktur verhaftet, da meine Gedanken das replizieren, was sie schon wissen. Wenn meine Erfahrungen und mein Wissen geprägt sind durch äußere Anforderungen oder durch meine eigenen hohen Ideale, dann gerate ich immer wieder in Überforderung oder Druck. Mein Kopf „erlaubt“ mir vielleicht nicht „jetzt schon“ Pause zu machen, da ich denke, „dass das noch nicht gut genug ist“ oder in mir ist das preußische Ideal wirksam, „erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen“.
Jetzt kommen wir wieder zur Situation vom Anfang: ich komme vom Focusing Seminar nach Hause und möchte mehr auf mich achten. Ich habe aber gleichzeitig Stimmen und Anteile in mir, die darauf aus sind, dass ich funktioniere und mich im Zweifelsfall zurückstelle und „schnell noch was zu Ende mache“. Im Focusing nennen wir dies den inneren Kritiker. Und besonders in Stresssituationen haben unsere inneren Kritiker gelernt, dass es auf sie ankommt. Dann werden sie besonders präsent und stark. Wenn ich also in meinem Alltag etwas verändern möchte, ist es gut, wenn ich meine inneren kritischen Anteile kenne und gelernt habe mit diesen umzugehen. Ich möchte Dich zu einer kleinen Übung einladen. Du brauchst hierfür ein leeres Blatt Papier, einen Stift und ca. 20 Minuten Zeit.
Pause für den Inneren Kritiker
Ich möchte dich einladen, ein extra Blatt Papier vor dich hinzulegen.
Und lass vor deinem inneren Auge eine dir bekannte stressige Situation entstehen. Das könnte was bei der Arbeit sein und z.B. mit Terminen zu tun haben oder mit einer Abgabe oder mit einer unangenehmen Aufgabe. Etwas das du vergessen hast, oder falsch gemacht. Oder etwas funktioniert nicht so, wie du es möchtest. Du wirst vielleicht kritisiert oder geärgert.
Wie erlebst du diese Situation? Welche Körperreaktionen nimmst du wahr? Schultern, Rücken, Bauch, Beine, Brustkorb und Atmung, Nacken, Kopf …
Welche Gedanken tauchen auf? Und welche innere Stimme spricht in diesem Moment mit dir? Was sagt sie? Gibt sie Anweisungen oder Kommentare? Versucht sie, dich zum Durchhalten zu motivieren oder beschimpft sie dich vielleicht? So vielleicht: „Selber schuld. Hättest du mal früher angefangen.“
Gib diesen Gedanken mal deine Aufmerksamkeit und schreibe die bekanntesten oder „deine liebsten“ davon auf das Blatt, das vor dir liegt. Und frage deinen inneren Kritiker, ob es noch was zu ergänzen gibt? Vielleicht fehlen ein paar dir gut bekannte Klassiker auf der Liste? Dies könnte sein: „Wenn du dich anstrengst, dann schaffst du das noch“, „das hast du dir schließlich selbst eingebrockt“, „was denken die jetzt von mir“, „gib jetzt mal richtig Gas und zeig was in dir steckt“, „Pause machen kannst du hinterher“, „ist das schon gut genug?“, „komm beeil dich mal“.
Jetzt lade ich dich ein, auf das Blatt zu schauen und mal nachzuspüren, was ein guter Abstand dafür wäre. So dass du dich wohl damit fühlst. Welcher Ort wäre dafür geeignet? Vielleicht wäre es auch gut das Blatt umzudrehen, zu falten oder aus dem Raum rauszubringen. Nimm dir Zeit und spüre nach, was ein guter Abstand und ein guter Ort für dich ist. Und probiere ruhig ein paar Varianten davon aus.
Jetzt würde ich dich einladen ein paar Sätze zu deinem Kritiker/ zu deiner Kritikerin zu sagen. Vielleicht magst du einen Dank aussprechen, dafür dass er oder sie dich so angespornt hat, vielleicht in früheren Situationen auch hilfreich war. Und so hart dafür gearbeitet hat, dass du performen konntest und funktioniert hast. Vielleicht magst du deinen Kritiker einladen, auch mal eine kleine Pause zu machen? Vielleicht jetzt? Oder ihr einen Kurzurlaub spendieren? Wo wäre er oder sie gut aufgehoben?
Wenn Du magst, dann kannst Du Dir jetzt Zeit gönnen, zu erspüren, wie es jetzt ist. Lass Dir ruhig ein paar Momente dafür, dass sich dies in deinem Körper entfalten kann. Ich möchte Dich einladen, für Dich diesen Raum eine Weile zu halten und das zu genießen, was Du wahrnimmst. Vielleicht entsteht in diesem Erleben ein inneres Bild? Oder Du erlebst in einer Körperregion ein wohliges Gefühl? Lass ruhig deinen Körper darauf antworten und lass eine Geste oder Berührung entstehen. Und lass Dir gerne etwas Zeit, bevor Du wieder in Dein Alltagsbewusstsein zurückkommst.
Focusing im Umgang mit Belastung und Stress
Im Focusing üben wir inneren und äußeren Freiraum herzustellen und können dadurch bemerken, wie es uns geht und welche Bedürfnisse ungestillt sind. Wir spüren, wann eine Pause guttut und wie wir diese gestalten können, um uns zu erholen. Um mich selbst gut zu regulieren ist es notwendig, mich zu spüren und nicht ganz in einem Gefühl, einer Situation oder einer Tätigkeit zu verschwinden. Hierbei sind eine freundliche innere Beobachtung und Achtsamkeit essenziell. Sylvia Wetzel weist in ihrem Buch „Mut zur Muße“ darauf hin, wie wichtig es ist, die Fähigkeit des Neokortex zu schulen, während wir etwas tun, gleichzeitig zu bemerken, was wir tun und uns dabei erinnern, was heilt und hilft. Sie schreibt: „Wir müssen fähig sein, das, was wir denken, sagen und tun, zu bemerken und zu überprüfen, denn wir leben in einer verrückten Welt, die uns unablässig mit zu vielen, oft auch überflüssigen Informationen und Dingen überschüttet. Solange wir nicht bemerken, dass uns das überfordert, spielen wir das Spiel der Zerstreuung und Überforderung mit und fühlen uns ohnmächtig, weil wir nicht wissen, wie wir konstruktiv damit umgehen sollen.“ (S.37)
Wir üben im Begleiten von Focusing Prozessen einen Teil der Aufmerksamkeit bei uns zu lassen. Gendlin regt dazu an, 50% der Aufmerksamkeit bei sich zu halten und 50% dem Klienten zu schenken. Im Erleben dieses Freiraums können wir bemerken, was in uns geschieht, wenn wir gleichzeitig im Kontakt mit anderen sind oder einer Tätigkeit nach gehen. Nur wenn wir merken, dass wir müde, unkonzentriert werden oder im Gefühl des Gegenübers verschwinden, können wir uns regulieren. Dies kann uns auch helfen, uns gleichzeitig abzugrenzen und verbunden zu bleiben.
Sind wir in Kontakt mit uns selbst, dann können wir entdecken, wenn wir zu sehr im Erleben unseres Gegenübers verschwinden oder wenn wir zu sehr mit etwas identifiziert sind. Wir bemerken, wenn wir z.B. in einem kindlichen oder verletzten Anteil „feststecken“ oder unter Kritikerherrschaft stehen. Im Focusing lernen wir, nicht mit den inneren kritischen oder destruktiven Stimmen zu verhandeln, sondern wir versuchen dieses Geschehen zu bemerken und wir suchen einen Umgang damit (wie z.B. in der kleinen Übung von oben) und fragen dann selbstfürsorgliche innere Anteile an. Sind wir mit unserer inneren kritischen Instanz zu stark identifiziert, dann haben wir keinen Zugang zu unserem Körper und zu unseren Ressourcen. Unser*e Kritiker*in verstellt uns den Weg zum Impliziten im Körper, zum eingefalteten Ganzen, und dann ist auch keine echte Veränderung und kein „Carrying Forward“ möglich. „Der Prozess des „Carrying Forward“ beschreibt, wie sich ein innerer Zustand von selbst zu mehr Lebendigem verändert … geben wir dem Prozess Raum, so wird der Körper aus sich selbst heraus neues, frisches Erleben bewirken.“ (Zitat aus dem Artikel „Der aus sich selbst heraus vorwärts tragende Prozess“ von Klaus Renn). Im Focusing fragen wir daher unseren Körper an und dieser beinhaltet immer „das Ganze“, hieraus gestaltet sich ein guter nächster Schritt, wir kommen in Kontakt mit unserer Energie und unseren Ressourcen. Wir können Vertrauen spüren und uns verbunden und gehalten erleben. In stressigen Momenten können so auch kreative Lösungen entstehen. Wie Nada Lou in ihrem Vortrag auf der Impulskonferenz sagte: „Focusing funktioniert, denn unser Körper impliziert den nächsten Schritt“.
In einer regelmäßigen Focusingpraxis pflegen wir den Kontakt zu dieser inneren wohlwollenden und absichtslosen Instanz und zum Impliziten, zum Ganzen, zu unserem Körper. Wir verbinden uns mit Etwas in uns, das offen-neugierig ist und gleichzeitig eine liebevolle Beobachtung ermöglicht. In diesem inneren Erleben suchen wir unseren FeltSense zum aktuellen Erleben, der uns helfen kann, einen guten nächsten Schritt zu finden. Ist dies gut eingeübt, so ist dieser Weg auch in Herausforderungen und unter großen Belastungen auffindbar und wir haben im Stress nicht nur die alten Muster zur Verfügung, sondern Neues, Lebendiges und Kreatives. Wir können dann trotz äußerer Taktung Momente „zeitloser Zeit“ finden und genießen. Wir können innehalten und uns in unserer inneren Achtsamkeit Fragen stellen wie: Wann habe ich ein Tempo im Leben, bei dem ich mich spüren kann und in Kontakt mit anderen und meiner Umwelt bin? Wo in mir kann ich mich verbinden mit dem, was mir Energie gibt? Wie genau erlebe ich meine Kraft im Körper? Wann brauche ich eine Pause und wie kann ich diese gestalten? Wer oder was tut mir wirklich gut und wie grenze ich mich ab, wenn nicht? Wie gestalte ich Übergänge zwischen stressigen und entspannten Situationen? Wie finde ich im Alltag Muße, Kontakt, Einfachheit und „Inseln tiefer Zeit“?
Literatur:
„Burnout- Frühsignale erkennen - Kraft gewinnen“, Ulrike Pilz-Kusch 2020, 2. Aufl. im Beltz Verlag
„Ganz da – Einfach und kontemplativ leben“, Richard Rohr 2028 im Claudius Verlag
„Mut zur Muße“, Sylvia Wetzel 2017 im Scorpio Verlag
„Dein Körper sagt dir, wer du werden kannst“, Klaus Renn 2017 im Verlag Herder
Psychologie Heute compact Nr. 75: Selbstfürsorge
„Heilen mit der Polyvagal-Theorie“, Stephen W. Porges 2021, 4. Aufl. im Probst Verlag
Podcasts:
„Sternstunde Philosophie“ (Folge vom 21.09.2024: „Burnout und Erschöpfung – wie finden wir zu neuer Energie?“)
„wage wilde Wege“: Wutkraft und Polyvagaltheorie von Tony Hofmann (Folgen 211-215)
„Carpe what“- Gegen Zeitdruck und Effizienz: Wie wir bewusst langsamer leben (Folge 36)
„Moments of Movement“ von Janika Görres (Folge 107 „Runter kommen“)
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