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Der Focusing-Blog

Sucht sucht Focusing

Sucht sucht Focusing

Ein Beitrag von Günther Buchetmann

Einige Anregungen zur focusingorientierten Unterstützung in der Suchtberatung und –behandlung

Sucht ist ein sehr komplexes Geschehen. Zwar kommt das Wort Sucht, heute sprechen wir eher von Abhängigkeit, ursprünglich von „siech“, aber es lässt sich auch formulieren: Etwas sucht … nach einem besseren inneren Zustand, etwas sucht ein Bedürfnis gestillt zu bekommen (i.d.R. nicht das vordergründige Wegbeamen). Etwas sucht … etwas Verletztes zu schützen …

Die Behandlung von Abhängigkeitserkrankten hat sich in den letzten Jahrzehnten stetig weiter entwickelt. Aber standardmäßig werden auch heute bei der Behandlung  in erster Linie verhaltenstherapeutische Tools eingesetzt. Und viele Ausbildungen zur  Suchttherapeut:in sind VT-orientiert, werden aber durch Anleihen aus anderen Schulen ergänzt.

Für die ersten Schritte aus der Abhängigkeit sind die konkreten Tools aus der Schatzkiste der VT unverzichtbar. Und doch zeigt sich, dass sich die empfohlenen Strategien im Notfall, nämlich bei auftauchendem Verlangen, häufig nicht dauerhaft wirkungsvoll erweisen. Das liegt zunächst daran, dass die Strategien oft zu wenig eingeübt sind. Und auch das Gegenteil kommt vor: Verhaltensorientierte Strategien „nutzen sich ab“, wenn sie zu häufig angewendet werden, z.B. bei jedem Verlangen einen Spaziergang zu machen oder viel Wasser zu trinken etc, was gerne empfohlen wird.

Durch focusingbasierte Angebote können wir einen wertvollen Beitrag leisten, der nicht nur oberflächlich wirkt, sondern eine echte Veränderung im inneren System bewirken bzw. anstoßen kann.

  1. Das Ganze zu meiner Sucht

Gendlin spricht in seinem Buch „Ein Prozessmodel“ in der englischen Version von richness (Reichhaltigkeit), als die das ursprüngliche, unmittelbare und körperlich von innen Gespürte, von „all dem“ (All That) zu uns kommt. „All dem“ bzw. „all das“, so erläutert Gendlin, bezieht sich auf einen Begriff, den William James geprägt hat: „The much-at-once“, das Gleichzeitig-Viele. Darum geht es ja, wenn wir einladen, „das Ganze von dem Thema“ zusammen zu nehmen. Wenn mein:e Klient:in in innerer Aufmerksamkeit „dem Ganzen der Sucht“ nachspürt, kommt sie/er - i.d.R. das erste Mal - mit dem Gesamtgefühl Felt Sense) von „all dem“ körperlich in Kontakt. Alleine dieses „all das“ zu bemerken und körperlich wahrzunehmen macht einen großen Unterschied, ist etwas Bedeutsames.

Konkret leite ich, nachdem ausreichend FreiRaum hergestellt ist, meine Klient:in in etwa so an: „Nehmen Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt mit nach innen, so in diese Linie Hals – Brust – Bauch - Magen und bleiben/verweilen Sie mit diesem Ganzen. Und lassen Sie es auf sich wirken“.

Dabei passiert das, was Gendlin als „Carrying forward“ bezeichnet. „Der sich selbst vorwärtstragende Prozess trägt“ übersetzt Klaus Renn dieses „Naturereignis“. Oft ist schon hier der bekannte Shift-Atemzug zu beobachten.

Und jetzt können wir der Klient:in helfen, die bereits hier mit frischer Lebenskraft in Kontakt kommt, den entstandenen Felt Sense zu öffnen, z.B. indem wir Symbolisierungen etc. anfragen

Aber mein Impuls hier ist, bei diesem ersten In-Kontakt-kommen mit „all dem“ genügend Raum zu geben und das Entstandene/Entstehende zu würdigen, dabei zu bleiben, Zeit zu geben. Selbst für Klient:innen mit wenig Focusing-Berührungspunkten kann sich hier etwas Wichtiges ereignen: Ein erstes „Ah, so ist das Ganze von innen“ (von dem ja meist leidigen Thema). Und wenn es gut geht, eine erste Shift-Erfahrung zu erleben. 

  1. Arbeit mit dem suchttragenden Persönlichkeits-Anteil

Eine weitere entscheidende Veränderung für die Klient:in ist das Erleben, mit dem suchttragenden Persönlichkeitsanteil in Kontakt zu kommen. Dazu hat sich eine kurze Erklärung bewährt, dass wir alle verschiedene Anteile haben, die unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen. Der bekannte Kritiker ist ein beliebtes Beispiel zur Illustration. Häufig sprechen Suchtklienten von sich aus von „mein Dämon“ oder „mein teufelchen“. Manche wissen sogar, wo dieses etwas sitzt, wenn es seine Animationskeule schwingt, z.B. auf der Schulter. An der Stelle sage ich meist auch etwas zum Umgang mit diesen Teilen. Dass ein freundlich-akzeptierender Umgang anzustreben ist.

Und dann helfen wir der Klient:in zu ihrem suchttragenden Anteil einen Felt sense entstehen zu lassen. Ich leite dann an, dem Teil ein kleines „Hallo, ich bemerke, dass du da bist“ zu geben. „Und wie ist das, wenn Sie merken Ihr … ist jetzt da?“ Nicht wenigen ist das Ganze zunächst nicht geheuer. Bis jetzt hat man ja alles getan, um dem „Dämon“ nicht zu begegnen. Ich frage: „Können Sie das akzeptieren, dass er zu Ihnen gehört“ und schiebe hinterher: „Schauen Sie, ob es geht. Die Teile bemerken, wenn wir es nicht ehrlich meinen.“ Oft klappt ein erster Kontakt gut mit einer imaginierten Bank, die unendlich lange sein kann. Damit kann der Klient den Abstand i.d.R. gut regulieren. Und er wird ermutigt, hinzuspüren, wie der Abstand für den Anteil ist. Wenn das in einer ersten Sitzung klappt, haben wir viel erreicht. Das Entscheidende ist die grundlegende Akzeptanz: Es ist okay, dass du da bist. Du gehörst zu mir. Man muss ihn deswegen nicht gleich mögen. Aber die Anerkenntnis: Du gehörst zu mir, ist wesentlich für eine weitere Arbeit. In den folgenden Sitzungen leite ich an:, „und wenn das, was Sie da spüren eine Figur wäre, was würde da entstehen? Die Figur, oder was immer entsteht, dann beschreiben lassen. Wie sieht es aus? Wie groß ist es? Welche Kleidung hat es an? In welcher Umgebung ist es? Sitzt es, steht es? Was hat es für einen Augenausdruck? usw.

Und weiter:  Welcher Name passt? Das ist oft auch wichtig. Im Namen hat man ein Gegenüber. Und Dämon oder Teufelchen sind oft nicht die ideale Basis für wachsendes Vertrauen. Das Ziel ist, ein stabiles be-friend-Verhältnis zwischen dem Selbst (Erwachsenen-Ich) und dem suchttragenden Anteil herzustellen, um bei auftretendem Verlangen auf ihn einwirken zu können. Wenn das gelingt, dann ist das Erlebnis von Selbstwirksamkeit eine tiefe Erfahrung, mit der die Abhängigen ein neues Level betreten. Zu erleben, ich kann eingreifen, mich selber regulieren ist ein wesentlicher Schritt, weg von der Angst, wann denn der nächste (Verlangens-) Angriff gestartet wird. Das gibt Sicherheit und Selbstvertrauen und ist weit mehr, als irgendwelche antrainierten Strategien zu wiederholen.

Zugleich ist es wichtig, bei auftauchendem Verlangen rechtzeitig in Kontakt zu gehen. Mein Bild dafür: „Zwei Ausfahrten vor dem Tunnel“. Wenn das Verlangen schon sehr massiv ist, ist es absolute Oberliga dann noch den „Suchti“ zu regulieren. „Suchti“ nannte eine Klientin liebevoll ihren suchttragenden Anteil der sich als rebellischer, aufmüpfiger Teeny gebärdet hat.

Bei der Arbeit mit diesen Anteilen ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass es manchmal auch ein Team von „Suchti´s“ geben kann. Nicht selten haben Klient:innen Verlangen in unterschiedlichen Situationen, z.B. wenn sie in ein Gefühl von Weltschmerz fallen, aber auch wenn es gilt, sich zu belohnen. Häufig sind hinter diesen verschiedenen Formen des Verlangens auch unterschiedliche Anteile zu finden, die in der je passenden Situation zum Konsum animieren.

Ein großes Erlebnis ist es vom eigenen Suchtteil zu hören, dass er „eigentlich“ eine gute Absicht hat, das System stabilisieren will. Leider können diese Anteile die nachteiligen Auswirkungen ihrer Aktivitäten nicht absehen.

In der Beratung ist ein stabiler Kontakt zum suchttragenden Teil ein entscheidender Schritt. In einer längeren Therapiephase sollten unbedingt der und die verletzen Anteile aufgesucht werden, die von den Suchtteilen geschützt werden. 

  1. Das Bedürfnis unter dem Bedürfnis

Eine spannende Anregung für die Klient:in kann es sein, das Bedürfnis unter dem Bedürfnis zu suchen. Die Herangehensweise ist unspektakulär. Wir helfen unseren Klient:innen, das Ganze zum Bedürfnis trinken, spielen etc. mit der inneren Achtsamkeit zu verbinden und lassen einen Felt sense entstehen. Wenn das Bedürfnis etwas „ausgeweidet“ ist, können wir die Klient:in ermutigen: Und wenn Du dich jetzt so wie durch dieses (Symbolisierte) so wie durchsinken lässt, was ist da darunter?

Kürzlich hat ein Klient gesucht, was unter seinem Pornoabusus liegt. Er hat das dann ausführlich beschrieben, was er eben erlebt hat: "Es ist, wie wenn ich abgehoben wäre – alle Sorgen und Alltagsprobleme sind unter mir – ich schwebe darüber – es ist in der Brust ganz hell – glücklich – nein, glückselig … usw." Ich durfte als Begleiter auch gleich ein bisschen mit abheben.

Finden Klient:innen das Bedürfnis unter dem Bedürfnis, so entsteht oft ein: Ach so ist das. Es geht hier gar nicht um saufen oder so was. Und das, was ich EIGENTLICH suche, kann ich auch wo anders finden. Dieses tieferliegende Bedürfnis kann ich auch mit anderen Mitteln erfüllt bekommen.

Es kann auch sinnvoll sein, bei akutem Verlangen nach dem Bedürfnis unter dem Bedürfnis zu suchen. Das kann jede:r Leser:in selbst ausprobieren, wenn sich mal wieder die Gedanken an die Tafel Schokolade, die aus dem Schrank winkt, nicht abstellen lassen. Kurz innehalten – Aufmerksamkeit nach innen – mein momentanes Bedürfnis etwas ausmalen – durchsinken lassen oder die Frage: was ist denn da drunter? Dort finden wir, was wir in Wahrheit suchen. Und vielleicht lässt sich das auch anders erfüllen …

  1. Es aushalten: Verlangen vs. Scham

Eine letzte Idee für die focusingorientierte Beratung und Therapie von suchtkranken Personen, die ich vorstellen möchte, entsteht gelegentlich in einem Prozess. Die Klient:in findet z.B. ihr Verlangen. Wir gehen damit weiter, geben Anregung zur Symbolisierung, zum Dabeibleiben etc. Nicht selten meldet sich dann aber etwas, das mit Scham identifiziert ist. Hier können wir anregen, beide Anteile dasein zu lassen. Dazu braucht es i.d.R. ein paar Anleitungen, z.B. den richtigen Abstand finden, beiden vermitteln, dass es okay ist, dass sie da sind. In weiteren Schritten kann man dazu anleiten, dass sie sich gegenseitig etwas kennen lernen. Die davor meist polarisierten Anteile sollen aus der Gegnerschaft herausfinden und zumindest die Duldung des anderen erreicht werden. Häufig gelingt dies, wenn die Teile voneinander hören, von den Aufgaben, wofür sie da sind. Die Aufgabe des Klienten ist es, mit der Aufmerksamkeit zwischen den Anteilen zu pendeln. Jeden zu würdigen, ihm für seine Anstrengung zu danken etc. und ggf. neue Rollen oder Aufgaben anzubieten. Und immer wieder zu spüren: Wie wirkt das in mir, im Körper, wenn ich höre, er will mich beschützen etc.

Manchmal geht es auch nur um akzeptieren und aushalten. Diese Form der Arbeit gehört nicht an den Anfang einer Behandlung. Dazu muss schon ein innerer Weg gegangen sein.

Natürlich liegt i.d.R. hinter dem vordergründigen Suchtverhalten eine besondere Biografie mit entsprechenden Einschlägen, oft traumatischen Erlebnissen. Aber auch damit gehen wir entsprechend unserer grundsätzlichen freundlich-wohlwollenden, akzeptierenden Focusinghaltung um. Und das alleine ist für viele Klient:innen schon etwas völlig Neues: Da ist jemand, der hört mir verstehend zu, verurteilt mich nicht, ist präsent bei mir. Da ist jemand, der sich für mich, für mein Erleben interessiert, der mit seiner ganzen Person dabei ist: durch Zuhören, Antworten, Spüren etc. Dadurch spannt sich ein Beziehungsraum auf, in dem Vertrauen fast mit Händen zu greifen ist und der die Basis für innere Prozesse sein kann.

Das Suchtgeschehen ist in der Tat komplex. In focusingorientierter Beratung und Therapie haben wir aber eine Reihe von Möglichkeiten unseren Klient:innen Wege aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins heraus finden zu lassen und dabei zu erleben: Ich habe Lösungen in mir. Prozesse können von mir selber angeregt werden und sie tragen sich selber fort und helfen mir zu passenden Antworten. Das sind häufig große Geschenke für von Abhängigkeit Betroffene.

Dass im Focusing der Körper der Ort des Erlebens ist, ist für viele Suchtpatient:innen zunächst gewöhnungsbedürftig. I.d.R. stand bei den meisten bisher nicht der Körper und seine Bedürfnisse im Focus. Und ein Hinspüren und Konfrontiertwerden mit „negativen“ Gefühlen war eher gefürchtet als gesucht. Insofern braucht es meist am Anfang auch etwas Geduld bis Schritte „mit dem Körper“ gegangen werden können. Die Basis dafür sind und bleiben die Grundhaltungen des Nicht-Bewertens und der Präsenz, in denen sich Beziehung ereignen kann.

 

 

gbuchetmann


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