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Der Focusing-Blog

Liebe Kritikerin!

Liebe Kritikerin!

Eine Laudatio für die meist ungeliebten Anteile in uns.

 Unsere inneren kritischen Instanzen haben landläufig keinen besonders guten Ruf. Kein Wunder, denn sie engen ein, machen Angst und bringen uns dazu, uns klein und unfähig zu fühlen.

 Der „innere Kritiker“ ist ein Freiraum-Killer und eine entsetzliche Spaß-Bremse. Nicht nur, dass er mir selbst die Freude am Tun raubt. Wenn er aktiv wird, dann sehe ich auch die Menschen um mich herum bald in einem ungünstigen Licht. Die Atmosphäre zwischen uns wird abwertend, besserwisserisch, konkurrierend … und wo ein Kritiker ist, ist auch ein verletzter innerer Anteil nicht weit. Ich fühle mich von den anderen bewertet – natürlich auf ungünstige Weise. Nein, eigentlich ist das noch zu milde ausgedrückt … eigentlich bin ich heimlich davon überzeugt, dass die anderen mich für unfähig halten … kann gar nicht anders sein. Und wenn ich ehrlich bin, schmerzt das sehr. Schnell aktiviert sich dann von innen so etwas wie: Alle anderen können es besser, ich kann das nicht, werde es nie lernen, das war schon immer so, … mit den dazugehörigen altbekannten, schlechten Gefühlen. Ich sitze in der „alten Suppe“. Und es ist wahnsinnig schwer, da wieder heraus zu kommen.

Was sein darf, kann sich verändern - aus gutem Grund also wenden wir uns in der Focusing-Ausbildung schon sehr bald dem so genannten „inneren Kritiker“ zu. Und schaffen erstmal Freiraum. FREIRAUM … aaaaaah, das tut schon mal gut. Dort verweilen, Pause machen, mir selbst Erlaubnis zum Durchatmen geben.

Was auch gut tut: Den anderen Menschen in der Gruppe geht’s ja ganz ähnlich! Die tragen auch solche heimlichen, klein machenden Überzeugungen mit sich herum. Ich bin nicht alleine damit. Also lass uns doch eine gemeinsame Sache daraus machen: Wir wenden uns den kritischen Stimmen in uns beherzt zu und unterstützen uns gegenseitig dabei, aus dem Freiraum heraus neue, hilfreiche Haltungen entstehen zu lassen. Wie erlösend das sein kann! Es darf gelacht und geweint werden.

In der Auseinandersetzung mit dem „inneren Kritiker“ kann auch deutlich werden: Diese Instanz möchte eigentlich dafür sorgen, dass wir in der Welt zurecht kommen, nicht ständig anecken und auch nicht ausgestoßen werden. Jedoch diese Art und Weise … diese schwarze Pädagogik mit den ständigen Drohungen und Abwertungen … so geht es eben ganz und gar nicht.

Was sein darf, kann sich verändern … das gilt natürlich auch für die kritischen Instanzen in uns. Mitunter ist es aber eine mächtige Herausforderung, dem „inneren Kritiker“ eine Daseinsberechtigung zuzugestehen. Ihn nicht zu verleugnen oder in die andere Richtung zu schauen (um ihn nicht sehen zu müssen). Zu akzeptieren, dass er auch dazu gehört. Wenn das gelingt, ist es ein bedeutsamer Schritt in Richtung Veränderung, denn dann können wir einen FeltSense zum Kritischen in uns entstehen lassen. Und diesen FeltSense können wir freundlich anfragen: „Was wäre jetzt gut?“  …

Im Seminar entwerfen wir manchmal Lobreden für unsere kritischen Instanzen, die wir uns gegenseitig vortragen. Dabei entstehen überraschende, berührende und auch lustige Texte. Hier sind zwei Texte von mir:

 

Mein Kritiker
Es ist ein er? Eine sie? …
Meine Kritikerin
Sie kennt mich so gut wie fast niemand sonst. Sie weiß, wann es ernst wird und es keinen Aufschub mehr gibt.
Wegen ihr verpasse ich nie den Zug und musste noch nie Säumnisgebühr beim Finanzamt bezahlen.
Sie nimmt alles ganz genau und wird niemals müde, mich und andere zu korrigieren. Dabei weist sie eine erstaunliche Beharrlichkeit auf.
Sie findet immer das Haar in der Suppe und es kümmert sie nicht, wenn sie sich dabei unbeliebt macht. In ihrem Urteil zeichnet sie sich durch unumstößliche Standfestigkeit aus.
Am meisten bewundere ich ihre große Treue zu mir. Sie hat sich noch nie von mir abgewandt.
(Dezember 2022)

 

Liebe Kritikerin!
Es war mir nicht immer klar, aber inzwischen habe ich erkannt, dass wir dasselbe Geschlecht teilen.
Ich bewundere deine hohe Aufmerksamkeit auch für die kleinen Dinge. Bei jedem Blick in den Spiegel hast du einen Hinweis für mich. Nichts entgeht deinem scharfen Auge.
Auch dass du nichts vergisst, finde ich bewundernswert. Egal wie lange eine Sache her ist, ich kann mich darauf verlassen, dass du sie mir nachträgst.
Du bist unermüdlich daran interessiert, dass ich mich anstrenge, dass ich alles gebe und nicht nachlasse. Das beeindruckt mich. Ich frage mich, wo du all die Energie hernimmst, und ob du irgendwann mal schläfst.
In all dem berührt mich deine Treue. Du warst und bist immer an meiner Seite. Du bist dir auch nicht zu schade, mir zum hunderttausendsten Mal zu sagen, dass ich jetzt aber wirklich los muss – und ich danke dir für die Vehemenz, die du dabei einsetzt (sonst würde es nichts nutzen).
Ich danke dir besonders, dass du über die Jahre etwas Vertrauen in mich gefasst hast und dadurch schon milder geworden bist. Für die Zukunft wünsche ich dir alles Gute und dass du dich auch mal ausruhen kannst. Ich verspreche dir auch, so lange selbst auf mich acht zu geben.
(Januar 2024)
 
 

 

Foto von Roman Melnychuk auf Unsplash


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