Freiraum schaffen in der Psychotherapie
Meine Klientin ist eine junge Frau. „Alleine schaffe ich es nicht mehr,“ sagt sie mir in unserem ersten Gespräch. In ihrem Blick liegt dabei ein tiefer Ernst.
Sie ist klug und ehrgeizig und wünscht sich sehnlichst Erfolg in ihrem Traumberuf. Sie arbeitet hart in ihrem Studium. Sie verlangt sich die besten Noten ab und geht erbarmungslos mit sich ins Gericht, wenn es mal misslingt. Aktuell ringt sie mal wieder mit einer Arbeitsblockade. Eine Hausarbeit muss abgegeben werden, aber sie fühlt sich nicht in der Lage, sich an die Arbeit zu machen.
Sie ist innerlich ständig damit beschäftigt, sich selbst zu überwachen, damit nichts schief geht. Wie ich ihr so zuhöre und das Ganze auf mich wirken lasse, entsteht bei mir bald der Eindruck eines sehr strengen, geradezu vernichtenden Anteils in ihr, der über all ihre Versuche herrscht, am Leben teilzunehmen. Ich fasse das in Worte und frage, ob sie damit etwas anfangen kann ...? Sie nickt und erzählt, dass sie, wann immer sie sich etwas vornimmt, von aufdringlichen Erinnerungen heimgesucht wird, die ihr alle unerträglichen Momente ihrer Kindheit wiederbringen. Diese schrecklichen Erinnerungen sind die ständige Warnung aus ihrem Inneren: „Lass dich nicht auf die Welt ein, überall lauert Gefahr. Traue niemandem und versuche erst gar nicht, gut zu sein, denn du wirst niemals Anerkennung erhalten.“ Das ist wohl so ungefähr der Text, den ihr Inneres ständig flüstert, ruft, schreit. Kein Wunder, dass sie entmutigt ist, sich kraftlos fühlt und keine Motivation für die anstehenden Hausarbeiten aufbieten kann.
Nach und nach verstehen wir gemeinsam, dass dieser innere Anteil alles aufbietet, was er kann, um sie vor weiterem Schmerz zu schützen. Nur leider macht er seine Arbeit so gut, dass meine Klientin im Begriff ist, in ihrem Studium zu scheitern. Sie ist durch ihn so eingeschüchtert und entmutigt, dass es ihr nur unter Aufbietung all ihrer Kraft gelingt, die Fristen einzuhalten und ihre Ergebnisse abzuliefern.
Ich schlage ihr vor, für diesen inneren Anteil einen angemessenen, respektvollen Ort zu finden. Ich leite sie an, diese Frage zu ihrem Körper hin zu stellen, sich nicht mit dem Kopf etwas auszudenken. Vor ihrem inneren Auge entsteht eine kleine Schatulle aus Holz, von innen ausgepolstert. Sie zeigt mir die Größe mit den Händen, es sind etwa 20 x 30 Zentimeter. In diese Schatulle gibt sie den Anteil hinein. Ich bin verwundert, dass dieser mächtige und starke Teil von ihr in dieses kleine Kästchen passt – aber was bedeutet schon meine Kopf-Logik in ihrem inneren Prozess?!
Ich bitte sie nun, für die Schatulle in ihrer Vorstellung einen guten Platz zu finden, irgendwo auf dieser Welt: „Aber einen respektvollen Platz bitte, nicht die Mülltonne oder so.“ Sie entscheidet sich, wieder etwas zu meiner Verwunderung, für ein Regal in ihrem Arbeitszimmer. Es erzeugt in ihr eine fühlbare Stimmigkeit, dass ihr innerer Anteil, der bedrohlich und einschüchternd, jedoch auch sehr wichtig in ihrem Leben ist, nicht allzu weit weg von ihr ist.
Ich lade sie ein, mit der Aufmerksamkeit nun in ihren Brust- und Bauchraum zu gehen und wahrzunehmen, wie es dort jetzt ist. Sie ist kurz ganz versunken, dann kann ich sehen, wie sich ihre Gesichtszüge entspannen und irgendwie aufhellen. Sie beschreibt, dass es in ihrem Brustraum nun leichter und heller ist als zuvor. Ich lade sie ein, dabei zu verweilen und dies wirken zu lassen. Wir lassen uns hier gemeinsam Zeit und genießen die spürbare atmosphärische Veränderung, die sich auch in meinem eigenen Inneren wahrnehmen lässt.
Gegen Ende unserer Sitzung bitte ich meine Klientin, innerlich nochmal alles zusammen zu nehmen, was sie gerade erlebt hat, so als könnte sie es ein Ganzes werden lassen. Und dann einmal die Frage dorthin zu geben – Fragerichtung wieder in Richtung Brust- und Bauchraum -, ob es so etwas wie einen kleinen guten nächsten Schritt gibt, aus diesem Erleben heraus. Sie antwortet auf eine bedächtige und irgendwie träumerische Weise: „Ich setze mich an die Hausarbeit, wenn ich nachher zuhause bin. Jetzt, wo das Ding weg ist, habe ich genug Kraft dazu!“ Dann schaut sie mich an und fragt: „Was mache ich, wenn es wiederkommt?“ Ich sage: „Naja, es ist ja nicht wirklich weg, es gehört ja zu Ihnen. Sie haben nur ein bisschen frische Luft zwischen sich selbst und diesen Anteil von Ihnen gebracht, indem Sie ihn an einen guten Ort getan haben. Zu gegebener Zeit werden Sie sich schon um ihn kümmern. Nur jetzt gerade müssen Sie Ihre Arbeit machen.“
Wir verabschieden uns. In mir trage ich noch eine ganze Zeit ein vages inneres Bild von einem hellen, großzügigen und einladenden Schreibtisch, neben dem ein Regal mit einer kleinen Schatulle aus dunklem Holz steht …
Kommentare powered by CComment