Die erste Regel lautet: folge nicht der Regel. (Eugene Gendlin mündlich in einem Video)
(Bettina Markones)
Schon lange begeistert mich dieser Satz von Gendlin und implizit schwingt er bei allen Focusinganleitungen von mir mit. Da ich überwiegend im schulischen Kontext arbeite, ist es mir immer wichtiger geworden, diese Aussage in kindgemäßen Formulierungen ganz häufig auch konkret auszudrücken.
Das kann bei ganz kleinen Dingen geschehen, wie z.B. bei der Wahl der Malstifte. In der Schule ist die Verwendung von Filzstiften häufig reglementiert, was meist sinnvoll ist. Gleichzeitig lieben die Kinder die leuchtenden Farben der Filzstifte. Also fragt ein Kind laut, ob es die Holzbuntstifte verwenden muss oder die Filzstifte benutzen darf. Ich antworte so, dass es für alle Kinder hörbar ist: "Wenn du deine Bilder in meinen Stunden malst, dann entscheidest du, welche Stifte du nimmst. Merkst du, die Filzstifte fühlen sich richtig an, dann benutzt du diese." So oder ähnlich antworte ich in den ersten Stunden bei Nachfragen. Irgendwann verändere ich die Reaktion und frage: "Was meinst du, wer das entscheiden kann?" Dann dauert es meist einen Moment, bis das Kind fragend "Ich?" antwortet. Bei den nächsten Kindern braucht es kein langes Nachdenken, ihre Antwort "Ich" kommt sofort und mit einem Strahlen im Gesicht. Irgendwann antworten andere Kinder auf diese Frage oder sie folgen innerlich der oben erwähnten Regel.
Das Wort innerlich ist dabei wichtig, weil sich Gerndlins Zitat ganz klar auf das innerliche Erleben bezieht. Denn auch in Stunden mit Focusing gelten in der äußeren Welt Regeln. Egal, ob mit einem Menschen oder einer Gruppe. Die Regeln dienen der Sicherheit aller Beteiligten und machen eine Hinwendung zum inneren Erleben erst möglich.
Somit ist die logische Reihenfolge: im äußeren Erleben muss es Regeln geben, damit inneres Erleben erfahrbar gemacht werden kann.
Dies erinnert mich an den Heilpädagogen Paul Moor (1899-1977) der als Aufgabe der Erziehung sah, dem Kind über den äußeren Halt die Entwicklung eines inneren Halts zu ermöglichen.
Genau das tun Focusingbegleiter in aller Welt: sie geben von außen Halt, damit sich innerer Halt entwickeln kann. Ein kleiner Baustein in dieser Arbeit ist es, dem Inneren zu erlauben, sich nicht an vorgegebene Interventionen, Einladungen ect. des Begleiters zu halten, sondern sich mutig auf den Weg zu machen, dem eigenen Erleben zu folgen.
Vergessen Sie nicht, dass nur positive, lebensfördernde Erfahrungen es wert sind, gemacht zu werden. (Eugene Gendlin in "Dein Körper, dein Traumdeuter")
(Charlotte Rutz)
Aus meiner Persönlichkeit heraus fällt es mir eher schwer, die Regeln zu brechen. Egal, wer sie gemacht hat und wie sinnvoll sie sind - ich habe einen starken Anteil in mir, der erstmal folgen will. Ich muss mich sogar nachts auf einer verlassenen Straße aktiv dazu entscheiden, nicht an der roten Ampel stehen zu bleiben. Wie genial und befreiend, dass Gendlin eine eigene Regel darüber aufgestellt hat, dass Regeln nicht befolgt werden müssen! Damit kann meine innere Regelbefolgerin recht gut umgehen.
Gendlin wendet seine pragmatische und offene Haltung gegenüber Regeln ja auch auf seine eigenen Instruktionen an. Seine Arbeit ist vollständig davon durchdrungen, dass er keinerlei Vorgaben über den lebendigen Kontakt mit dem Gegenüber stellt. Zwar hat er genaue Schritte entwickelt und formuliert hat, um Focusing, die Arbeit mit Träumen und später auch Thinking at the Edge lehren zu können. Und doch ist er der Erste, der dazu ermutigt, dass wir unsere eigenen Schritte finden und die Methode zu unserer eigenen Methode machen oder gar hinter uns lassen können. Das macht ihn in meinen Augen zu einem absolut uneitlen Lehrer (sehr sympathisch).
Ich erlebe oft ein gewisses Spannungsfeld im Umgang mit Instruktionen, das mich immer wieder beschäftigt. Es besteht darin, dass ich eine bestimmte Erfahrung, eben beim Lernen einer neuen Methode oder auch in einer Psychotherapie, nur machen kann, wenn ich möglichst genau den Vorgaben folge. Und das bedeutet auch, mich aus meiner Komfortzone herauszubewegen und mich in herausfordernde, vielleicht auch erstmal unangenehme, Zustände hineinzubringen (wie beim Sport zum Beispiel). Andererseits: Wenn ich bemerke, dass es mir mit bestimmten Vorgaben nicht gut geht, weil sie Dinge beinhalten, mit denen ich nicht einverstanden bin oder mich anhaltend unwohl fühle, so ist es aus Sicht der Focusing-Haltung nur folgerichtig, von den Vorgaben abzuweichen. Denn sonst verliere ich meinen Freiraum, und ohne Freiraum kann ich überhaupt gar keine neuen Lernerfahrungen machen, die vorantragen und lebensfördernd sind.
Und es ist einfach wunderbar, in die Atmosphäre einer Lerngruppe einzutauchen, in der es kein "du musst" gibt, sondern der Freiraum und die gemeinsame Suche nach dem vorantragenden Lebensprozess die Richtung vorgeben.
Zwei verschiedene Sichtweisen auf Gendlins Einladung zum Umgang mit Regeln sind hier zu aufgeführt. Wir würden uns freuen, in den Kommentaren auch Deine Überlegungen zu diesem Thema zu lesen.
Beitragsbild von Gerd Altmaier
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