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Der Focusing-Blog

Erleben … Experiencing … was ist das?

Erleben … Experiencing … was ist das?

Wenn ich etwas über Focusing erkläre, sage ich oft, Focusing ist erlebensbasiert. Dabei mache ich dann diese Bewegung mit meinen Händen auf und ab vor meinem Bauch- und Brustbereich. Damit will ich gleich zeigen, wo das Erleben zuhause ist: Im Körper. Genauer gesagt, in der Körpermitte. Wir sprechen im Focusing oft vom inneren Erleben und sagen, wir gehen mit der Aufmerksamkeit nach innen.

Und das aus gutem Grund! Denn nur dort, im inneren Erleben, kann geschehen, was wir Focusing nennen. Nur dort finden wir den FeltSense und diese spezielle Art des Verweilens mit einem Etwas (meinem Thema), aus der heraus etwas Neues aufsteigen kann.

Gendlin holt mit seiner Experiencing-Theorie noch weiter aus und sagt, dass das Erleben immer grundsätzlich ist - nicht nur beim Focusing. Im alltäglichen Leben nehmen wir dieses Geschehen normalerweise kaum oder gar nicht wahr. In der inneren Aufmerksamkeit können wir „es“ öffnen und uns einen erleb-baren Zugang verschaffen.

Gendlin beschreibt das Erleben so:

„Es ist etwas sehr Einfaches, leicht zugänglich für jeden Menschen, und genau diese Einfachheit macht es anfangs schwer, es überhaupt zu erkennen. Andere Ausdrücke dafür sind „gefühlte Bedeutung“ oder „Fühlen“. Wobei „Fühlen“ ein Wort ist, das normalerweise für spezifische Inhalte benutzt wird – für dieses oder jenes Gefühl, eine Emotion oder eine Gestimmtheit, zum Beispiel ein gutes oder schlechtes Gefühl, sich deprimiert oder heiter fühlen. Was wir fühlen – genauer gesagt, wie wir fühlen – verändert sich häufig, aber unabhängig davon gibt immer ein konkretes und präsentes Fließen (Flow) des inneren Fühlens. Zu jedem einzelnen Moment können wir persönlich und privat unsere Aufmerksamkeit direkt nach innen richten, und wenn wir das tun, ist dort dieses Fühlen. Natürlich haben wir diese oder jene Idee, wir haben spezielle Wünsche, Emotionen, Wahrnehmungen, Wörter oder Gedanken, aber immer haben wir gleichzeitig auch dieses konkrete Fühlen, ein inneres Spüren, das in seiner Natur weiter, umfassender ist. Es ist eine konkrete Größe in dem Sinne, dass es für uns „da“ ist. Sein „Da“-Sein ist kein bisschen vage. Vage ist es höchstens in dem Sinne, dass wir nicht wissen, was es ist. Wir können nur ein paar Aspekte davon in Worte fassen. Dieses innere Spüren ist immer etwas, das da ist, egal wie wir es nennen oder beschreiben. Unsere Definitionen, unser Wissen darüber, „was es ist“, sind Symbole, die bestimmte Aspekte oder „Teile“ davon verdeutlichen. Ob wir ihm einen Namen geben oder nicht, ob wir es in Teile zerlegen oder nicht – es ist da.“

Aus: Experiencing and the creation of meaning (1962, Ausgabe von 1990), S. 11. Die Übersetzung stammt von mir (unten findest du das englische Original).

 

Ich habe mich gefreut, als ich diesen Text über das Erleben gefunden habe, denn es bereitet mir vergnügtes Staunen, dieses ganz Einfache, das Gendlin da beschreibt, in mir zu entdecken und mich immer wieder neu darauf einzulassen. Meine Welt wird damit reicher und irgendwie ganzer.

Gendlin sagt weiter, dass ohne dieses Erleben, das in meinem Körper wohnt, zum Beispiel Worte keine Bedeutung für mich hätten. Sie wären nur „verbal noise“, also nur irgendwelche nichtssagende Geräusche. Bedeutung erhalten Worte erst dadurch, dass sie auf mein körperliches Erleben in diesem Moment treffen und dabei durchtränkt werden mit meinen persönlichen und einzigartigen Erfahrungen. Gendlin nennt das „Kreuzen“: Das Wort, das über mein Ohr in mein Körpererleben eintritt, kreuzt sich dort mit meiner gegenwärtigen Situation und mit allen vergangenen Gelegenheiten, bei denen ich dieses Wort „erlebt“ habe. Das heißt, aus dem körperlichen Erleben meiner aktuellen Situation, zu der auch die Person gehört, die das Wort gerade gesagt hat, UND aus allen Bildern, Gefühlen, körperlichen Reaktionen, Gedanken und Fakten, die sich zu diesem Wort in mir angereichert haben, kommt mein Verstehen. Erst dadurch gewinnt das Wort für mich Bedeutung.

Die aktuelle Neuro-Forschung beschreibt übrigens genau diesen Vorgang für alle Sinneseindrücke: Das Gehirn setzt den aktuellen Sinneseindruck der momentanen Situation mit allem, was es gespeichert hat, zu einer neuen, frischen Bedeutung zusammen[1]. Es gibt keine Schubladen im Gehirn, in denen eine Wort-Bedeutung, ein Sinnes-Eindruck oder auch eine Erinnerung als unveränderbares Faktum abgelegt ist.

Zurück zum Erleben: Für uns im Focusing kommt eine weitere, sehr bedeutungsvolle Sache dazu. Ich kann nämlich zu jeder Zeit mein körperliches Erleben in meine bewusste Aufmerksamkeit nehmen. Das körperliche Erleben ist sowieso da, in jedem Moment meines Lebens. Die Frage ist nur: Nehme ich es bewusst wahr oder nicht? Im Focusing geht es ganz genau darum - dieses Erleben wahrzunehmen, es zu berühren, ihm freundllich Aufmerksamkeit zu schenken. Dann kann es uns Zugang eröffnen zu bisher nicht greifbaren Aspekten unserer Lebenswirklichkeit und uns neue, überraschende Sichtweisen oder stimmige nächste Schritte bringen. Es ist vielleicht nur eine kleine innere Bewegung, doch sie enthält das Potential, alles zu verändern (was auch immer "alles" in diesem Moment heißt).

Für Gendlin ist klar, dass wir diese innere Komplexität des körperlichen Erlebens unbedingt brauchen, zum Beispiel um stimmige Entscheidungen treffen zu können: „Wir entscheiden, wenn wir es müssen, aber vielleicht bleibt doch ein deutliches Unbehagen in uns hängen. Dieses körperliche Unbehagen „weiß“ etwas über die implizite Komplexität, die nicht in die Entscheidung einbezogen war. Jedoch, wenn eine Entscheidung gut im Körper sitzt – wie selig werden wir in der kommenden Nacht schlafen!“[2]

Übrigens erzählte Gendlin, wie der Begriff „Focusing“ zustande gekommen ist: Er ludt seine Studierenden mit den Worten „focus on your inner experience“ ein, die Aufmerksamkeit nach innen, zu ihrem Erleben hin, zu richten. Bald forderten sie einander auf: „Let’s do focusing!“ Diese bewusste Handlung, diese innere Bewegung zum körperlichen Erleben hin, ist also die Essenz von Focusing.

Hier noch das Originalzitat. Wenn du andere Übersetzungsideen hast oder dein Erleben zu diesem Beitrag teilen magst, schreib gern unten in die Kommentare!

„It is something so simple, so easily available to every person, that at first its very simplicity makes it hard to point to. Another term for it is „felt meaning“, or „feeling“. However, „feeling“ is a word usually used for specific contents – for this or that feeling, emotion or tone, for feeling good, or bad, or blue, or pretty fair. But regardless of the many changes in what we feel – that ist to say, really how we feel – there always is the concretely present flow of feeling. At any moment we can individually and privately direct attend our attention inward, and when we do that, there it is. Of course we have this or that specific idea, wish, emotion, perception, word, or thought, but we always have concrete feeling, an inward sensing whose nature is broader. It is a concrete mass in the sense that it is „there“ for us. It is not at all vague in its being there. It may be vague only in that we may not know what it is. We can put only a few aspects of it into words. The mass itself is always something there, no matter what we say „it is“. Our definitions, our knowing „what it is“, are symbols that specify aspects of it, „parts“ of it, as we say. Wheter we name it, divide it, or not, there it is.“ (Experiencing and the creation of meaning (1962, Ausgabe von 1990), S. 11)

 

[1] Lisa Feldman Barrett (2023): 7 ½ Lektionen über das Gehirn, Kap. 4. (www.sevenandahalflessons.com)

[2] E. Gendlin (2004): The new phenomenology of carrying forward. Übersetzung von mir.  

 

Danke an Nicola für das wunderbare Foto!

 


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